Hamburg, 4 Grad, Nieselregen, windig und grau. Doch in der Fischauktionshalle Altona strahlen an diesem Abend rund 450 Augenpaare. Bereits zum zwölften Mal hat hier Anfang Dezember die Bedürftigen-Weihnachtsfeier „Mehr als eine warme Mahlzeit“ stattgefunden. Und zwischen dampfenden Tellern, prall gefüllten Geschenketüten und 140 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern stehen in diesem Jahr drei Männer, die sonst andere Bühnen gewohnt sind: Chris Harms, Klaas Helmecke und Benjamin Mundigler von Lord Of The Lost.
Normalerweise spielen sie vor Tausenden. Heute tragen sie Kaffeetassen, servieren ein Drei-Gänge-Menü und reden mit Menschen, die in Hamburg kaum jemand wahrnimmt, obwohl sie mitten in der Stadt leben. Heute geht es nicht um Lichtshows oder Applaus – es geht um Nähe und Würde. Und darum, dass echte Hilfe manchmal beginnt, wenn man einfach die Schürze umbindet und ohne großes Aufsehen mit anpackt. Und anzupacken gibt es genug.
„Mehr als eine warme Mahlzeit“: Ein Abend voller Würde
Ins Leben gerufen wurde die Weihnachtsfeier einst vom Friends Cup e.V. gemeinsam mit dem Hamburger Radiosender Rock Antenne Hamburg. Beide organisieren und stemmen das Projekt seit Jahren mit großem Einsatz – von der Planung über die Helfenden bis zu den Partnern, die diesen Abend möglich machen.
„Wir wollen weniger über Charity reden, sondern handeln“, sagt Chris Harms, während er auf seinen Tablettstapel zeigt. „Es geht darum, Vorbild zu sein, Hemmschwellen abzubauen und zu zeigen, dass Hilfe etwas ganz Einfaches sein kann.“ Er sagt das nicht für eine Kamera. Er sagt es, während hinter ihm schon der nächste Nachschlag gebraucht wird.

Eine familiäre Atmosphäre für 450 Bedürftige
Die Stimmung in der riesigen Halle ist warm, gemütlich und eigentlich auch schon familiär. Viele der 450 Bedürftigen kommen Jahr für Jahr, um diese Weihnachtsfeier zu genießen und einmal auf der anderen Seite zu stehen: bedient zu werden, gesehen zu werden. Die langen Tafeln sind mit weißen Tischdecken eingedeckt. Es gibt silberne Kerzenhalter, Stoffservietten, handgebackene Kekse, liebevoll dekorierte Tannenzweige, Äpfel und Mandarinen. Menschen und auch Familien mit Kindern, die sonst in Bahnhofsunterführungen, Notunterkünften oder zu kleinen Zimmern leben, sitzen an den Tischen und reden miteinander. Viele tragen alles, was sie besitzen, am Körper. Viele sind allein. Und viele sind dankbar, überhaupt einmal eingeladen zu werden.
Zwischen ihnen bewegen sich die Helfenden, klar strukturiert, aber entspannt. Niemand hetzt, niemand wirkt überfordert. Es ist eine dieser seltenen Situationen, in denen 140 Leute an einem Ort sind, aber nichts chaotisch wird. Vielleicht, weil jeder weiß, weshalb er hier ist und was zu tun ist.
Mitten unter den Menschen: Lord Of The Lost packen an
Klaas steht am hinteren Ende der Halle und bringt dampfenden, heißen Kaffee zu den Menschen an die Tische. Er redet leise, hört zu und lässt sich Zeit. Er ist ruhig und präsent. Es gibt diese Momente, in denen jemand spontan erkennt, wer da eigentlich vor ihm steht – ein kurzes Aufleuchten in den Augen, ein „Bist du nicht…?“ – aber es bleibt immer auf Augenhöhe. Klaas winkt ab, wenn jemand sich bedankt. „Gern“, sagt er, „ist doch selbstverständlich.“
Benji trägt erste Suppenschüsselchen an die Tische. In diesem Jahr gibt es eine Mandel-Sellerie-Terrine. Er begrüßt jeden Tisch mit einem Lächeln, macht kurze Witze, lockert auf. Ein Mann mit abgewetzter Lederjacke hält ihn fest und sagt einfach nur leise: „Danke.“
Benji lächelt und drückt ihm die Schulter. Kein großes Gerede. Keine Pose. Nur ein echter Moment, der hängenbleibt.
Ein Menü, das mehr bedeutet als ein Essen
Das Menü des Abends ist ein klassisches Weihnachtsgericht: besagtes Mandel-Sellerie-Süppchen mit Basilikum-Schmand, als Hauptgang Rotkohl, Kräuterhähnchen mit Backpflaumenfüllung und Kartoffelgratin und als Dessert ein Karamell-Törtchen mit Kirschen. Für viele obdachlose und bedürftige Menschen ist so ein Essen lange her. Manche Gäste kommen frisch aus Beratungsgesprächen, manche aus Wohnprojekten, manche vom Bürgersteig. Das Publikum ist genauso vielfältig wie die Gründe, die Menschen in Armut führen. Und genau deshalb ist dieser Abend so wichtig. Nicht wegen des Essens, sondern wegen des Gefühls, dass sie für ein paar Stunden dazugehören.
Chris erzählt, dass sie sofort zugesagt hätten, als die Anfrage kam. „Ich finde, dass wir als Band so oft für Dinge Aufmerksamkeit bekommen, die letztlich nur uns dienen. Dann ist es doch das Mindeste, diese Aufmerksamkeit auch manchmal dahin zu tragen, wo sie einen Unterschied macht.“ Er sagt es schlicht. Das macht es glaubwürdig.

Momente der Nähe, die unter die Haut gehen
Ein paar Reihen weiter steht eine ältere Frau auf, stützt sich am Stuhl ab und umarmt eine der Helferinnen, die sie seit Jahren kennt. Ein junger Mann, der heute zum ersten Mal da ist, hat Tränen in den Augen, als er seine große REWE-Tüte bekommt – voll mit haltbaren Lebensmittel. „Das reicht für zwei Wochen“, sagt er leise. Vorne, bei den Barber Angels, bildet sich eine kleine Schlange: Hier gibt es kostenlose Haarschnitte, Bärte werden gepflegt, ein bisschen Selbstwert zurückgegeben. Die Gospel-Sänger auf der Bühne singen Weihnachtslieder.
Lord Of The Lost bewegen sich mitten darin, als wären sie schon immer Teil dieses Projekts gewesen. Sie haben als Support von Iron Maiden deren Welttournee begleitet. Heute Abend stehen sie in Altona und verteilen Nachtisch.
Hilfe ohne Glamour: Warum das Projekt funktioniert
Und genau das macht diesen Abend so besonders. Er ist keine Charity-Gala mit Sekt und Häppchen, sondern echte, unmittelbare Hilfe. Es gibt keine Sonderplätze für Prominente, keine Bühne. Wer hier mitmacht, macht wirklich mit. Das ist der Kern des Projekts – und vielleicht der Grund, warum es seit über einem Jahrzehnt so fest im Hamburger Dezember verankert ist.
Kurz vor Ende des Abends setzen sich Chris, Klaas und Benji für einen Moment zusammen auf eine der Bänke, bevor der Abbau beginnt. Man sieht ihnen an, dass sie müde sind. Aber es ist diese Art von Müdigkeit, die sich richtig anfühlt.
Ein Abend, der verändert – und weiter motiviert
Chris, wie hat es sich denn angefühlt? „Das war auf jeden Fall eine unfassbar krasse Erfahrung. Eine Erfahrung, die so wunderschön begann! Aber je später dann der Abend wurde, umso mehr wurde mir klar: ‚Hey, die gehen jetzt alle eben nicht nach Hause, sondern auf die Straße, in die Kälte!‘ Und diese glücklichen Augen, die man vorher gesehen hat – da hat man richtig gemerkt, wie die so Stück für Stück trauriger wurden. Und das hat mich total mitgenommen.
Ich dachte: Das ist jetzt hier einer von 365 Tagen, beziehungsweise ein halber von 365 Tagen, an dem wir den Menschen hier eine schöne Zeit schenken konnten. Aber es gibt noch so viele andere Tage. Und das motiviert mich sehr, noch mehr zu tun, noch aktiver zu sein, noch mehr gerade hier auf St. Pauli auf meine Umgebung zu achten und zu schauen, wem ich noch helfen kann. Also alles in allem eine wunderschöne Erfahrung, aber auch augenöffnend und kathartisch. Wir können alle nicht genug tun – und das muss jedem klar sein!“
Ein Hamburger Termin, der bleibt
Die Halle leert sich langsam, und die letzten Gäste verlassen den Raum mit vollen Tüten, warmem Essen im Bauch und etwas, das man nicht einpacken kann: Zeit und echte Zuwendung.
Und während draußen der Regen wieder einsetzt, ist eines klar: „Mehr als eine warme Mahlzeit“ wird auch im kommenden Jahr Anfang Dezember wieder jenen helfen, die Hamburg sonst zu oft übersieht.
Anna Olma
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