Mehr als 30 Jahre Pause zwischen zwei Veröffentlichungen hat nicht mal Axl Rose hinbekommen. Die schweizerischen Thrash-Pioniere Coroner legen mit DISSONANCE THEORY nun endlich den Nachfolger ihrer letzten Veröffentlichung GRIN (1993) vor. Dieses Album legte überraschend viel Wert auf (den damals angesagten) Groove-Faktor und opferte dafür zahlreiche progressive Elemente, die den Vorgänger MENTAL VORTEX (1991) noch ausgezeichnet hatten. Sprich: Es klang eher nach Prong als Coroner. In dieser Richtung kann Entwarnung gegeben werden: Coroner sind sich ihrer kreativen Strahlkraft für verschiedene Musikergenerationen bewusst und legen wieder mehr Wert auf rassige Riffs, vertracktes Wechselspiel und schnelles Spieltempo. Auch der progressiv-jazzige Faktor der Anfangstage kommt wieder vermehrt zum Tragen, sodass sich DISSONANCE THEORY allein aus spielerischer Hinsicht wohltuend vom Einheitsbrei abhebt. Dankenswerterweise hat das Trio zudem darauf verzichtet, das Ganze in eine Retro-Show zu verwandeln, und kleidet seine Inspirationen in eine klare, kühle (manchmal leicht unterkühlte) und modern-präzise Produktion. Auch inhaltlich geben sich Tommy Vetterli (Gitarrist), Ron Broder (Bass, Gesang) und Schlagzeuger Diego Rapacchietti nicht mit Einheitsbrei zufrieden.
Die von Vetterli produzierte Scheibe (Mix und Mastering lagen in den Händen von Jens Bogren, unter anderem Opeth, Kreator, Amon Amarth, Behemoth) behandelt die Spannung zwischen Mensch und Technik, Macht und Ohnmacht, Selbstüberschätzung und Vergänglichkeit. Immer wieder tauchen religiöse, wissenschaftliche und kosmische Bilder auf, die existenzielle Fragen stellen. Wer hat die Kontrolle: Mensch oder Maschine? Können beziehungsweise dürfen Gesetze moralisch sein? Sind wir das Maß aller Dinge oder der Ursprung aller Zerstörung? Was bei all dem Anspruchsdenken ein wenig auf der Strecke bleibt, sind die mitreißenden Hooklines, wobei man bei solch progressiven Protagonisten nie genau weiß, ob sie überhaupt gewollt sind. DISSONANCE THEORY beinhaltet einige metallische Denksportaufgaben, ist aber musikalisch so interessant gehalten, dass die 47 Minuten viel mehr unterhalten als quälen. Ein äußerst gelungenes Comeback, das einer Szene, die mitunter Gefahr läuft, aus Sicherheitsbedenken kreativ zu verschimmeln, schonungslos den Spiegel vorhält und zeigt, was möglich wäre.
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