Tatort Los Angeles. Das Büro von Doc McGee, seit Mitte der 90er Manager von Kiss, liegt in einem mondänen Bürogebäude am Sunset Boulevard - zwischen Edelboutiquen und französischen Restaurants - und ist in etwa so Rock'n'Roll wie heiße Milch mit Honig. An den Wänden hängen signierte Fotos von allerlei Prominenz aus Politik und Showbiz, auf den Regalen stapeln sich Pokale von Golfturnieren, die schweren Samtmöbel könnten aus einem britischen Country-Club stammen. Wäre da nicht die eine oder andere Kiss-Devotionalie in Form von goldenen Alben oder gerahmten Postern, könnte dieser Raum das Büro eines Steuerberaters sein.
Diesen Eindruck bekommt man bereits am Empfang: Da sitzt ein rüstiger Rentner in Security-Uniform und bekommt von Praktikant Shawn, der den METAL HAMMER willkommen heißt, die Instruktion: "Gleich kommt Paul Stanley. Würden sie ihn bitte ins Büro vom Chef schicken?" - "Paul wer?", fragt es perplex zurück. "Stanley, der Sänger von Kiss." - "Nie gehört, wer ist das?" - "Eine der größten Bands der Welt." - "Na, wenn ich die nicht kenne, können sie nicht so groß sein." Shawn verzieht das Gesicht, als habe er Zitronen gelöffelt. "Wenn sie ihren Job behalten wollen, und ich meinen, dann lassen sie den Mann rein."
Was allerdings geschlagene 45 Minuten dauert. Denn Stanley, der eigentlich Stanley Harvey Eisen heißt, steckt im kalifornischen Feierabendverkehr. Doch das Warten lohnt sich: Der 56-Jährige erweist sich als drahtiger Berufsjugendlicher in T Shirt, Jeans, Turnschuhen und Lederjacke, der eher wie Mitte 30 aussieht. Was - das verrät er grinsend - nicht von ungefähr kommt: "Mein Trainer versucht jeden Tag, mich zwei Stunden lang zu töten. Und das nur, damit ich fit bin, wenn die Tour losgeht", erzählt Paul. "Mann, ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so hart gearbeitet habe. Das ist ein richtig heftiges Pensum: Ich mache Sit-ups, Liegestütze, Kniebeugen, Gewichtübungen und alles mögliche. Ich lasse mir sogar die Beine mit Gummibändern zusammenbinden, und versuche dann zu gehen. Lauter verrückte Sachen. Aber hey, ich bin schließlich Paul Stanley."
Der Rückzug vom Rückzug
Ein Rock'n'Roll-Dienstleister alter Schule, der trotz 90 Millionen verkaufter Tonträger sowie diverser nicht minder profitabler Einnahmequellen auf dem Teppich geblieben ist, stolz das Brieftaschenfoto von seiner Frau und zwei pummeligen Teenagern vorzeigt und sich wirklich die Zeit nimmt, ein ausführliches Interview zu geben. Dabei ist er aufmerksam und charmant, lacht viel, beweist Humor und äußert sich auch zu Fragen, die er weniger toll findet. Etwa nach seinem langwierigen Hüftleiden, das ihn in den letzten Jahren gleich mehrfach in den OP-Saal zwang. "Ich bin okay", winkt er ab. "Aber es stimmt schon: Es gab ein paar Tourneen, auf denen ich mich kaum bewegen konnte. Da bin ich die Treppe zur Bühne raufgehüpft, habe die Show absolviert und bin dann wieder runtergehüpft. Da macht die Ersatzhüfte einen Riesenunterschied. Keine Ahnung, wie groß er fürs Publikum ist, aber für mich ist er riesig. Wobei ich nicht glaube, dass du dich auf der Bühne je für etwas entschuldigen oder dem Publikum erzählen solltest, was du nicht tun kannst. Denn wenn du nicht in der Lage bist, die Show vernünftig zu absolvieren, sollte auch niemand dafür bezahlen. Von daher habe ich nie gesagt, was mich belastet. Ich habe immer meinen Job gemacht."
Womit er 22 Studio- und fünf Live-Alben, monströse Welttourneen, tonnenweise Make-up, hunderte von Kostümen und Plateauschuhen sowie nicht weniger als 35 Dienstjahre umschreibt. Eine beeindruckende Statistik, die Kiss zu einem der erfolgreichsten Rock-Acts aller Zeiten macht - worauf der Sohn deutscher Weltkriegsflüchtlinge mächtig stolz ist. " Das ist wirklich eine Leistung! Ich meine: Das hätte ich nicht einmal in meinen kühnsten Träumen zu hoffen gewagt. Niemals.
Zumal das Rock'n'Roll-Märchen ja eigentlich schon beendet war: Nach den enttäuschenden Umsätzen von PSYCHO CIRCUS (1998) hatten die Schminke-Rocker ihre große Farewell-Tour durch Australien, Japan und die USA angekündigt und im April 2001 zum erfolgreichen Abschluss gebracht. Nur um dann immer wieder rückfällig zu werden - mit kleineren Tourneen und sporadischen Festival-Gigs. Stanley erklärt mit später, aber grundlegender Selbsterkenntnis: "Nach der Abschiedstour hatte ich wirklich das Gefühl, dass es das war und dass da auch nichts mehr kommt", meint er. "Aber ein paar Wochen nach der letzten Show habe ich meinen Wagen zur Inspektion gebracht, und der Mechaniker meinte: 'Mann, eure Abschiedstour war so toll, wann unternehmt ihr die Jubiläumstour?' Darauf ich: 'Wow, du meinst, wir können noch einmal wiederkommen?' Und da wurde mir klar, dass ich gar nicht wollte, dass Kiss aufhören - ich wollte nur nicht mehr mit den Typen spielen, die damals in der Band waren. Denn leider verschwinden alte Angewohnheiten und Probleme nicht immer, sondern sie werden mit der Zeit unerträglich. Von daher mussten sich gewisse Dinge ändern: Deshalb auch das neue Line-up, das übrigens das Beste ist, das wir je hatten."
Money, Money, Money
Selbst wenn es nur noch zwei Original-Mitglieder aufweist: Bassist Gene Simmons und
eben Paul. Gitarrist Ace Frehley wurde 2002 wegen akuter Alkoholprobleme geschasst, Drummer Peter Criss folgte zwei Jahre später wegen chronischer Unzuverlässigkeit. Der Ersatz sind zwei gute, alte Bekannte: das ehemalige Black'N'Blue-Mitglied und Simmons-Assistent Tommy Thayer sowie Rock-Veteran Eric Singer, der schon von 1991 bis '96 bei Kiss trommelte.
Mit diesem Line-up geht es auf die "Alive/35 World Tour": eine Konzertreise zum 35-jährigen Bestehen der Band, die Mitte März in Australien begann und sich im Mai von Deutschland über Osteuropa und Skandinavien zurück in die bunte Republik erstreckt - inklusive ausverkaufter Hallen, diverser Zusatz-Shows und einer gigantischen Ticket-Nachfrage. Ein Triumphzug - nicht nur in Deutschland: "Wir haben in knapp zwanzig Minuten 35.000 Tickets in Stockholm verkauft", freut sich Stanley. "Dasselbe in Oslo und Helsinki, wo wir noch eine Zusatz-Show geben. Insofern salutiere ich vor Deutschland, aber woanders läuft es mindestens genauso gut."
Unnütz zu sagen, dass das Unterfangen jede Menge Kohle einspielt und die ohnehin gut gedeckten Konten der Altmeister bis ins hohe Rentenalter sichern dürfte. Dabei sind die handelsüblichen Tickets um die 60 Euro nur die erste Stufe eines ausgeklügelten Money-Making-Systems - quasi die Einstiegsdroge: Beinharte Fans, die sich ihre Sucht einiges kosten lassen, haben die Wahl zwischen drei verschiedenen VlP-Paketen, die über die Band-eigene Homepage http://www.kissonline.com zu buchen sind. Darunter ein "Meet And Greet Package" für 875 Euro, das ein Treffen mit der Band, ein Foto, T-Shirt, Tourprogramm und Autogramme beinhaltet (aber kein Ticket!). Dann das "Pre-Show Soundcheck Package" für 350 Euro, das die Anwesenheit beim Soundcheck ermöglicht, und nicht zuletzt das " Preshow Soundcheck & Meet And Greet Package", das beide Arrangements zusammenfasst - für stattliche 1050 Euro. So macht man Geld.
Stanley betont jedoch mehrfach, dass es ihm vor allem um den Spaß gehe und weniger ums Finanzielle. "Ich mache das, weil ich es will - aber nicht wegen des Geldes. Davon habe ich genug", so Paul lapidar. "Wer sich für ein VIP-Package entscheidet, der will etwas Besonderes: Er möchte uns unbedingt aus der Nähe erleben, was völlig legitim ist. Und was die ganzen Merchandise-Sachen betrifft, so erscheinen sie ja nur, weil die Leute sie wollen. Wer also behauptet, das hätte keine Glaubwürdigkeit oder es wäre gegen alles, was den Rock'n'Roll ausmacht, der redet eher mit dem Hintern als mit dem Mund. Denn wir zwingen es ja niemandem auf. Trotzdem erhält es immer mehr Aufmerksamkeit, als es eigentlich verdient Denn in erster Linie sind wir eine Band. Die Leute kommen nicht von wer-weiß-woher und sorgen für ausverkaufte Shows, weil sie einen Kiss-Sarg oder eine Kiss-Maske besitzen. Nein, sie kommen zu den Shows wegen dem, was Kiss als Band verkörpert. Von daher sehe ich auch keinen Grund, dem Merchandise eine große Rolle einzuräumen. Ich meine: Ich schäme mich nicht dafür. Es ist schließlich sehr erfolgreich, weil die Leute es kaufen."
Die Merchandise-Maschine
Der 7.000 Dollar teure Kiss-Sarg dürfte zwar immer noch das Flaggschiff allen Sammelwahns sein, aber Simmons/Stanley wären keine erfolgreichen Geschäftsleute - ähem: Musiker -, hätten sie nicht schon den nächsten Selbstvermarktungstrumpf in der Hinterhand: das Kiss-Coffeehouse. Eine Kaffeebutze nach Starbucks-Vorbild, deren erste Filiale Ende 2006 in Myrtie Beach, South Carolina, eröffnet wurde und die in den nächsten Jahren zu einem kleinen Imperium ausgebaut werden soll - natürlich wegen seiner Klasse und dem Verantwortungsbewusstsein des Dienstleistungsunternehmens Kiss. "Wir schauen gerade, wann der beste Zeitpunkt wäre, um noch ein paar Läden zu eröffnen. Es ist einfach unglaublich erfolgreich", freut sich Paul. "Im Ernst: Wäre ich öfter da, würde ich doppelt so viel wiegen wie jetzt, weil die tolle Desserts haben. Und natürlich wird auch hier wieder die Frage aufkommen: 'Was zum Teufel hat ein Cafe mit der Band zu tun?' Auch da würde ich die Gegenfrage stellen: 'Was zum Teufel hat Kiss mit jeder anderen Band zu tun?' Mann, es läuft toll, die Leute lieben es - Ende der Geschichte. Außerdem gibt es da wirklich tollen Kaffee - erstklassigen Kaffee sogar.
Etwa eine spezielle Kiss-Röstung, handgepickt von ausgewiesenen Fair Trade-Kaffeebauern? "Viele unterschiedliche Sorten", kommt es wie aus der Pistole geschossen - und ohne die feine Ironie der Frage zu beachten. "Wir haben zum Beispiel eine Riesenauswahl an entkoffeinierten Kaffees, die Unplugged heißen. Da haben wir Vanille, Haselnuss, eine dunkle Röstung und eine große Auswahl an Festtags-Kaffees, zudem Black Diamond-Kaffee und noch ein paar Sorten. Wir haben sogar eine mit extra viel Koffein. Sie heißt Mr. Speed. Und du siehst - wir haben Spaß dabei." Kurze Pause. Werbetrommel abschalten. Rückbesinnung auf die Tour: "Aber das Wichtigste ist doch, dass wir als Band immer noch auf Tour gehen und jedem in den Hintern treten. Ginge es nur darum, den ganzen Tag am Schreibtisch zu sitzen und Merchandise zu entwickeln, dann wäre ich nicht mehr hier."
Alive
Womit wir wieder beim eigentlichen Anlass des Treffens wären: der Tour. Und da verspricht Stanley "value for money". Heißt: Für seine Teuros bekommt der Fan eine entsprechende Leistung, die geschlagene drei Stunden dauert und alles vereint, was das Phänomen Kiss ausmacht: die Schminke, die Kostüme, die Show-Effekte und die besten Songs der Band-Geschichte. Motto: "No filler, all killer". "Weil wir 35 Jahre Kiss feiern und weil ALIVE das Album war, mit dem wir unseren Durchbruch geschafft haben, werden wir es auch in seiner gesamten Länge spielen. Das ist der Schwerpunkt der Show - wir bringen die Songs, die uns berühmt gemacht haben. Denn seien wir ehrlich: Es gibt nicht eine klassische Rock-Band, von der du auch den neuen Kram hören willst", ist Paul überzeugt. "Ich meine: Wer schaut sich die Stones an, und will irgendetwas vom neuen Album hören? Ich bestimmt nicht! Damit will ich sie jetzt nicht niedermachen. Aber die Wahrheit ist, dass die Stücke, die viele Bands bekannt gemacht haben, so etwas wie der Soundtrack zum Leben der Fans geworden sind: Sie sind damit aufgewachsen und wurden in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens davon begleitet. Von daher ist es völlig egal, wie gut die neue Musik ist, sie wird nie dieselbe Relevanz besitzen. Und ich sage dir genau, wann eine alte Band ihre neuen Songs spielt: Dann, wenn alle auf ihren Stühlen sitzen bleiben."
Weshalb die Vier, das verspricht Stanley genauso hoch und heilig wie den Auftritt in "DESTROYER-mäßigen Kostümen", nicht einen unbekannten Ton anstimmen werden. Dafür sei in der Jubiläumsgala kein Platz. Und deshalb hegt er auch keinerlei Ambitionen, überhaupt noch einmal ins Studio zu gehen: "Egal, was wir machen und wie gut es ist: Es wird sich nie mit den alten Sachen vergleichen lassen", glaubt Stanley. "Die Leute haben eine solche Beziehung zu den alten Songs: Sie können sich noch genau erinnern, wo sie sie zum ersten Mal gehört haben, wen sie dazu gevögelt haben und was damals in ihrem Leben passiert ist. Neue Songs dagegen werden niemals diese Bedeutung haben. Ich bin der Meinung, dass PSYCHO CIRCUS genauso gut war wie alles, was ich je geschrieben habe. Aber ich verstehe, dass es für die Leute nicht dieselbe Bedeutung hat wie LOVE GUN."
Das klingt, als hätte sich Stanley mit seinem Schicksal abgefunden, als würde er Kiss nur noch als tourende Jukebox erachten und seinen Kick eher aus Auftritten im Musical 'Phantom der Oper', als Solist (LIVE TO WIN, 2006) oder in Duetten mit Sarah Brightman beziehen - worüber Kiss-Fans nur den Kopf schütteln. Doch Stanley weist jede Art von Einbahnstraßen Blues zurück: "Diese Art von Erfolg zu haben, ist ein unglaublicher Segen. Er wäre nur ein Fluch, wenn ich nicht damit umzugehen wüsste", meint der Sänger. "Und das ist definitiv nicht der Fall. Wenn die Leute diese Stücke lieben, dann fühle ich mich gesegnet. Wobei ich es lustig finde, wenn mich jemand fragt, wann wir ein neues Album machen. Ich weiß doch genau, dass sie es höchstens einmal durchlaufen lassen - und dann wieder 'Detroit Rock City' hören wollen. Warum soll ich mir also den Arsch aufreißen, um ein großes Kiss-Album zu machen, wenn es nie denselben Eindruck hinterlassen wird wie der alte Kram?"
The Gene-Gene
Bleibt nur noch ein Punkt: Stanleys Verhältnis zum zwei Jahre älteren und einige Kilo schwereren Gene Simmons. Denn so erfolgreich und beständig diese Partnerschaft auch ist - die beiden sind völlig verschiedene Charaktere: Stanley ist der brave Familienvater, der sein Privatleben sorgsam unter Verschluss hält, ohne Exzesse, Skandale und große Publicity auskommt. Gene dagegen ist die wandelnde PR-Maschine, die nicht genug mediale Aufmerksamkeit bekommen kann, sein Familienleben offen zur Schau stellt, mit zahllosen Affären protzt und - gerade rechtzeitig zur Tour - mit einem netten kleinen Sex Tape aufwartet. Darüber kann Paul nur schmunzeln. "Was immer Gene will... Ich werde das nicht kommentieren."
Wohl aber ihr Arbeitsverhältd nis: "Ich schätze, mit fortschreitendem Alter driften wir immer weiter auseinander. Ich bin mir sicher, dass das, was ich mit meiner Zeit anfange, überhaupt keinen Reiz auf ihn ausübt. Und was er tut, ist nichts, was ich machen würde - es sei denn, man hält mir eine Pistole an den Kopf." Ein Seitenhieb auf die Reality-Show`Family Jewels´? Richtig! "Das schaue ich mir nicht an! So etwas wie Reality TV gibt es
nicht-du kreiersteine eigene Realität fürs Fernsehen. Von daher fühlt sich das auch nicht echt an. Ich finde es leichter, unsere Freundschaft aufrecht zu erhalten, indem ich das ignoriere und mich auf Dinge konzentriere, die wirklich wichtig sind. Ich meine, ich kratze mir den Kopf über vieles, was da passiert. Aber noch einmal: Er hat das Recht zu tun und zu lassen, was immer ihn glücklich macht."
Chaim Talking
Was Gene schamlos ausnutzt. Der Mann, der eigentlich Chaim Witz heißt, vor 58 Jahren im israelischen Haifa geboren wurde, und seine Brötchen sogar mal als Lehrer verdiente, ist ein Meister der Selbstinszenierung und -Vermarktung - als Rockstar, Frauenbeglücker und Geschäftsgenie. Weshalb er nicht nur immer wieder neue - zumeist kurzlebige - TV-Formate wie 'My Dad The Rock Star' (Cartoon), 'Mr. Romance' (Dating-Show), 'Rock School' (DSDS für Nachwuchs-Rocker) und 'Family Jewels' ('The Osbournes'-Rip-Off) entwickelt, sondern auch kleine Filmrollen übernimmt ('Runaway', 'Trick Or Treat', 'Never Too Young To Die', 'Wanted: Dead Or Alive') oder in Serien wie 'Miami Vice', 'American Idol' oder 'Family Guy' auftaucht. Allerdings ohne dabei sonderliches Gespür für gute Drehbücher, geschweige denn erstrebenswerte Rollen zu beweisen. Es geht nur darum, den eigenen Zinken in die Kamera zu halten und präsent zu sein - koste es, was es wolle.
Denn als Schauspieler ist Gene genauso talentfrei wie als Solo-Musiker, der bislang zwei Alleingänge vorgelegt hat und diverse Male als Manager (u.a. für Liza Minnelli) sowie Produzent (Wendy 0. Williams, Black 'N Blue, Silent Rage, House Of Lords, Doro Pesch) in Erscheinung getreten ist. "Ich habe nie behauptet, dass ich ein großer Musiker bin - das wäre schließlich gelogen", dröhnt es Ende März aus der METAL-HAMMER-Telefonmuschel. "Aber ich bin ein guter Performer: ein Showman, der weiß, was sein Publikum will, und ihm genau das gibt. Mehr noch: Ich gebe ihm sogar Sachen, von denen es gar nicht weiß, dass es sie will - und trotzdem ist es begeistert. Das ist meine Stärke, und die setze ich um. Tag für Tag." Was kein bisschen untertrieben ist. Wenn Kiss gerade Auszeit haben (was in den letzten sieben Jahren seit der Farewell-Tour öfter vorkommt), dann sitzt Gene an seinem Schreibtisch und entwickelt abenteuerliche Merchandise-Produkte - die aber längst nicht alle realisiert werden, weil sie eben manchmal doch keine Renner sind. "Ich gebe zu, dass ich schon mal daneben liege und dass Sachen wie das Tongue Magazine, die Kiss-Cola oder das Kiss-Auto nicht funktioniert haben. Aber hey, das ist okay. Damit kann ich leben", zeigt Gene sich gelassen. "Zumindest hatte ich meinen Spaß dabei, sie zu entwickeln. Und das Kiss-Toilettenpapier, das auch kein Renner war, benutze ich jetzt einfach selbst. Es bereitet mir großes Vergnügen, mir mit Peter und Ace den Arsch abzuwischen. Nicht, dass ich was gegen sie hätte, aber das ist doch eine witzige Sache." Genau wie die größenwahnsinnige Idee, irgendwann den Begriff "Luft" zu lizenzieren, mit einem weltweiten Copyright zu versehen und jeden Bewohner dieses Planeten zur Kasse zu bitten: "Ich würde nur ein paar Cent pro Tag verlangen", zeigt Gene sich pseudo-großzügig. "Aber wenn dir sechs Milliarden Leute täglich ein paar Cent überweisen, dann kommt schon was zusammen. Leider habe ich da bislang noch keine Fortschritte gemacht, aber in allen anderen geschäftlichen Bereichen sind wir gut dabei."
Zukunftsmusik
Das geballte Selbstbewusstsein. Wobei er in einem seltenen Anfall von Selbstironie dann doch zugibt, gewisse Probleme mit der eigenen Körperfülle und den maßgeschneiderten Bühnenkostümen zu haben ("die sind doppelt so groß wie früher"), nur um im Nachsatz mit gespieltem Stolz zu verkünden: "Jedes extra Gramm auf meinen Hüften ist ein Zeichen meines Wohlstands - es erinnert mich daran, dass ich es geschafft habe. In Indien würde man mich glatt als Gott verehren." Für den er sich - so hat es den Anschein - längst hält. Aber kein Wunder: So lange ihm allabendlich Zehntausende von Menschen zujubeln und die alten Tricks mit dem Kunstblut, dem Fliegen über die Bühne und dem Feuerschlucken frenetisch beklatscht werden, steht das Ego in voller Blüte. Und weil Interviews wie dieses reine PR sind, verkündet er vollmundig die Veröffentlichung einer Live-DVD namens KISSTERIA, die Mitte März in Sydney mitgeschnitten wurde und rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft erscheinen soll. "Wir haben die komplette Show gefilmt, und die Kameras folgen uns auch Backstage sowie an Orte, wohin sie vorher nie durften: ins Badezimmer, ins Schlafzimmer, einfach überall hin. Also die volle Hinter-den-Kulissen-Geschichte." Die wahrscheinlich viel spannender ist als die x-te Neuauflage ihrer Greatest Hits.
Wobei es sich Gene nicht nehmen lässt, zum Ende des Gesprächs noch einmal richtig auf die verbale Kacke zu hauen. Und zwar mit einem gepflegten Abgesang auf alle Kollegen, die den Löffel viel zu früh abgegeben haben, sich ihrer Verantwortung als Rockstars entzogen und schlichtweg Feigheit statt Klasse bewiesen haben. "John Entwistle, Keith Moon, Bon Scott, Janis Joplin, Jim Morrison, Kurt Cobain - was für Idioten! Wenn dir jemand eine Knarre an den Kopf hält, solltest du auf die Knie fallen und um dein Leben betteln. Doch diese Pfeifen haben es sich selbst genommen. Und deshalb sollten sie auch nicht bewundert werden." Gene dagegen denkt überhaupt nicht daran, einen Schlussstrich zu ziehen: "Ich mache immer weiter!" Womit eines klar sein dürfte: Die letzte Deutschland-Visite ist "Alive/35" bestimmt nicht. Das ist so sicher wie die nächste T-Shirt-Kollektion. Amen.